Im sonnigen Spätsommer des letzten Jahres wurde ich also gebeten, für den Naturfreund der Naturfreunde einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Freeridens und der Freerideindustrie zu schreiben. Das Interesse am ‘Freeriden’ nimmt scheinbar immer noch zu, und auch deshalb habe ich diese Bitte natürlich gerne erfüllt. Die Fotos stammen von Andreas Kocher.
Freeriden erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Man versteht darunter das Fahren im Gelände, egal ob mit Skiern oder dem Snowboard. Der folgende Essay skizziert die Geschichte des Freeridens und die typische Entwicklung von Freeridern. Er möchte aber natürlich auch Lust darauf machen, hinaus in den Schnee und in die Berge zu gehen.
Das, was heutzutage unter Freeriden verstanden wird, ist und war immer schon die ursprünglichste und selbstverständlichste Form, Berge auf Skiern zu befahren. Den natürlichen Geländeformen folgen, den besten Schnee suchen und spielerische Elemente mitnehmen. Die Schwungformen wurden der Hangneigung und dem Gelände angepasst, und wenn mal einen ganzen Hang lang kein einziger Schwung gemacht wurde, war das auch okay. Bestens dokumentiert in Arnold Fancks großartigem Werk „Der weiße Rausch“, einem der besten Freeride-Filme aller Zeiten, der bereits seit 85 Jahren zeigt, wie viel Spaß Skifahren macht.
Relativ neu ist hingegen der Begriff „Freeriden“. Anfänglich als Modewort für Ski- und Snowboardfahren abseits der Piste aus anderen Sportarten entlehnt, hat es heute eine genauere Bedeutung, eigene Tätigkeitsbereiche und Stilformen sowie eine eigene Sprache. Etymologisch geht dem Freeriden das Extreme Skiing voraus: Bis spät in die 1990er-Jahre wurden etwa Freeride Contests als Extreme-Skiing-Bewerbe bezeichnet.
Bunt und laut
Mit ein Grund dafür, warum seit der Jahrhundertwende immer mehr WintersportlerInnen den Schritt weg von Pisten und hinaus ins Gelände suchen, ist der damit einhergehende Lifestyle. Früher war es das Tiefschneefahren. Wegerlfahren. Daunifoan. Klingt alles so sexy wie ein kaltes Schmalzbrot. Doch ab den Achtzigern strömten das Laissez-faire-Image und das Punkrock-, Drugs-and-Funky-Colours-Feeling der Surf- und Skateszene auch in den Schnee. Zuerst angekommen, wie immer, bei den Snowboardern. Dann musste noch ein technologischer Quantensprung passieren (kürzer, taillierter, breiter), bevor sich auch ein wahrnehmbarer Teil der SkifahrerInnen von der „Das-war-immer-schon-so-und-wird-immer-so-bleiben“-Einstellung abwandte. Zu dieser Zeit war die Kluft zwischen Ski und Snowboard noch ziemlich ausgeprägt, was der Entwicklung nicht unbedingt förderlich war.
Dann ging es verhältnismäßig schnell. Einige Skifirmen realisierten bald, dass die neuen breiten Ski im Gelände fast nur Vorteile und nur wenige Nachteile hatten, und bauten hochwertige Produkte. Auch draußen im Schnee tat sich einiges. Der Kleidungsstil orientierte sich an den Snowboardern und Skatern, das Auftreten selbst auf den hintersten Gletschern Tirols wurde auf einmal urbaner. Es begann die Zeit, in der man sich in den Skigebieten stoisch zunickte, wenn man Kollegen mit ähnlich fetten Skiern begegnete, und man führte in den Liftschlangen lange, ebenso stoische Erklärungsversuche, warum fette Ski das neue Ding seien. (Diese Liftschlangendiskussionen gibt es heute nicht mehr; heute führt man diese Debatten in Skitourenzirkeln und erklärt sturen „Das-war-immer-schon-so-und-wird-immer-so-bleiben“-Vertretern die Vorteile breiter Tourenski. Aber auch diese Diskussionen werden bald der Vergangenheit angehören.) Innerhalb weniger Jahre gehörte es auch zum guten Ton, neben der adäquaten Kleidung auch das entsprechende Equipment zu tragen. Helm und Rückenprotektor wurden zum Standard und waren nicht mehr Symbol für verbissene Rennläufer oder hyperaktive Kinder mit Gleichgewichtsproblemen. Das Tragen eines Lawinenverschütteten-Suchgeräts (LVS) und Rucksacks mit Schaufel und Sonde sowieso. Auch wenn anfänglich viele der neuen BesitzerInnen schöner Sicherheitsausrüstungen nicht damit umgehen konnten, ist dies eine der erfreulichsten Entwicklungen im alpinen Wintersport.
Ein ganzes Leben lang
Eine weitere erfreuliche Tendenz ist, dass immer Jüngere den Weg weg von den Pisten suchen, so die Vielseitigkeit der winterlichen Berge früh kennenlernen und sich mit alpinen Gefahren spielerisch auseinandersetzen. Leider hallt oft ein entrüsteter Aufschrei durch die Gegend, wenn Zehnjährige mit voller Ausrüstung durch den Powder pflügen. „Die Fratzen haben hier nix verloren! … Zu gefährlich, verantwortungsloses Elternpack!“ Meist von jenen, die analoge Geräte noch immer für den Gipfel der LVS-Technologie halten. Tatsächlich ist es so, dass gerade junge Menschen erstaunlich wissbegierig und lernfreudig sind; sie machen weit häufiger als die 40+-Generation eine Alpinausbildung und sind somit risikobewusster am Berg unterwegs. Das zeigen Erfahrungen der letzten zehn Jahre.
Die Entwicklung junger FreeriderInnen verläuft meist ähnlich. Das erste große Interesse ist der Park, das Springen, der gesamte Freestyle-Bereich (seit 2014 sind übrigens auch Wettbewerbe im Slopestyle und in der Halfpipe olympisch). Mit fortlaufendem Alter verlagert sich der Fokus weg von Kickern und Rails in den Bereich abseits der Piste. Zwar noch im lifterschlossenen Gebiet, aber schon mit kurzen Aufstiegen kombiniert. Hier werden die Fähigkeiten, die in ganz jungen Jahren im Park gelernt wurden, hinaus ins Gelände getragen. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit viele Zwanzigjährige solide Backflips über meterhohe Felsen hinausjagen. Der Großteil der jungen FreeriderInnen setzt sich sowohl theoretisch als auch praktisch mit den alpinen Gefahren auseinander. In der Szene gilt es als selbstverständlich, die richtige Ausrüstung zu tragen und sie auch anwenden zu können. Gemeinsam werden Lawinensituationen simuliert und trainiert, entweder im Freundeskreis oder von Ausbildungsinstitutionen oder von einem Freeride Center organisiert. Auch wenn noch viel Praxis fehlt, besteht doch ein sehr großes Interesse daran, wenigstens theoretisch die Risikomanagementstrategien sowie alle Definitionen der Warnstufen zu kennen, um im Notfall das Richtige machen zu können.
Es wird ruhiger
Mit zunehmendem Alter und wachsender Erfahrung entwickeln fast alle FreeriderInnen ein steigendes Interesse an alpinen Herausforderungen. Bei freeride-orientierten Touren steht beispielsweise nicht der Gipfel im Vordergrund. Die Projekte werden nach interessanten Linien ausgewählt: Das können spannende Rinnen oder steile Wände sein. Erst dann wird der passende Aufstieg geplant. Auch wenn das Material vielleicht schwerer als das der klassischen SkitourengeherInnen ist, die Hosen weiter und die Ski oder Splitboards breiter sind, die Motivation ist eine sehr ähnliche. Ein bisschen die Ruhe der Berge suchen, sich mit der Natur und sich selbst auseinandersetzen und im Idealfall eine sensationelle Linie in wenigen Schwüngen, mit hoher Geschwindigkeit und bei perfektem Schnee fahren, sodass am Ende des Tages nur mehr der Helm den fetten Grinser im verschwitzten, aber zufriedenen Gesicht einschränkt.
Über den Autor
Stephan Skrobar ist staatlich geprüfter Skilehrer und Skiführer, fährt im Fischer Freeski Team, ist Alpinausbildner für den steirischen Skilehrerverband, Team Manager des Pieps Freeride Teams und Leiter vom ‘Die Bergstation Freeride & Alpin Center’. Stephan betreibt auch eine Kommunikationsagentur und liebt gepflegten Punkrock. Beide (Stephan und Punkrock) sind nicht immer ernst zu nehmen.